Der Allerwerteste

77. Tag, von Omsk nach Kalachinsk, 90 km

Der Ruhetag mit der kurzen Stadtführung durch Omsk hat uns allen gut getan. Doch heute ging es weiter in den Osten. Die Stadtausfahrt aus Omsk war wenig aufregend, da sich Dank des Samstages der Autoverkehr noch relativ gemäßigt zeigte.

Bald hatten wir das sibirische Tiefland wieder um uns, mit jedem Kilometer Entfernung von Omsk wurde der Verkehr auf unserer kleinen Straße ruhiger, da es heute möglich war, die große überregionale Straße nach Novosibirsk, unserer nächsten großen Stadt, mit dem vielen LKW-Verkehr zu vermeiden.

Von unterwegs gab es wenig zu berichten, da können wir uns einer der nicht gestellten Fragen der Blogleser zuwenden: „Wie kann man soweit Radfahren, ohne dass der Allerwerteste leidet?“

Nein, keiner von uns hat Wasserblasen am Hintern oder eine Hornhaut. Auch die Zeiten, als man ein Stück rohes Fleisch in die Hose stopfte und es weichritt und so die Sitzfläche schonte, sind vorbei. Die moderne Sportkleidung hat auch die gepolsterte Radhose geschaffen, die wir alle, jeder von seinem bevorzugten Hersteller, tragen.

Effektiv sitzt die Mehrheit dann auf einem Ledersattel, der sich für die meisten als beste Lösung für lange Strecken erwiesen hat. Zugegeben, bei dem heutigen Angebot ist es nicht leicht, den individuellen perfekten Sattel zu finden. Ledersättel müssen zudem einige 100 km der eigenen Anatomie angepasst = eingefahren werden bis sie richtig auf für weite Distanzen zu verwenden sind.

Dank des Zweiklangs aus Radhose und passendem Sattel überlebt das Hinterteil auch lange Tagesetappen. Falls es doch nötig ist, kann die Haut durch Vaseline, Hirschtalg oder diverse andere Salben aus der Apotheke zusätzlich geschützt werden.


Sibirienharte pyramidale Silber-Pappeln am längsten Nebenfluss der Erde

Bilderbuch vom Ruhetag am 76. Reisetag in Omsk an einem sonnigen sibirischen Sommertag

Omsk (Омск) als Hauptstadt der Oblast Omsk darf sich mit 1.2-1.3 Mio Einwohnern selbstbewußt Großstadt nennen. Wir bummeln am heutigen Ruhetag in der siebtgrößten Stadt Russlands. An der Wirtschaftskraft gemessen ist Omsk sogar die viertgrößte.

Hier fließt die Om (Омь) nach 1091 km in den Irtysch (Иртыш, kasachisch Ертіс / Ertis). Der wiederum ist ein 4248 Kilometer langer linker Nebenfluss des Ob in China, Kasachstan und Russland. Er soll damit der längste Nebenfluss der Erde sein.

Geografisch sind wir schon fast in der Mitte Russlands angekommen (54° 58′ N, 73° 23′ O, hab ich im WWW gefunden), aber im Süden nahe der Grenze zu Kasachstan. Die „Location of Omsk on a map“ kann man(n) u.a. hier gut sehen.

Wir treffen uns 11 Uhr zu einem gemeinsamen Stadtrundgang. Kristina erklärt uns in bestem Deutsch wichtiges über ihre Stadt und beantwortet unsere Fragen.
Wir starten am Hotel „Brick Walls“ in der Uliza Lenina, der – laut Kristina – schönsten Straße in Omsk. Hier ist der sehr aufwendig restaurierte und renovierte historische Kern der Stadt (u.a. mit großzügiger Unterstützung von Gazprom – kommt euch das auch irgendwie bekannt vor?).

„Omsk wurde 1716 vom Trupp des deutschstämmigen Oberstleutnants der Russischen Armee Johann D. Buchholz als Grenzfestung für den Schutz Russlands gegen Überfälle aus dem Südosten gegründet, aber auch als Stützpunkt für die weitere Erschließung Sibiriens. Unter Einfluss des Oberbefehlshabers Iwan Iwanowitsch Springer entstand auf dem östlichen Ufer des Irtysch 1768 eine für die damalige Zeit moderne Festung mit Mauerwerk. Diese verhalf Omsk dazu, als militärisch-strategisch wichtiger Stützpunkt fortzubestehen. Seit 1782 ist Omsk eine Stadt. Im 19. Jahrhundert war Omsk Verbannungsort für Dissidenten, wie zum Beispiel Fjodor Dostojewski und die Dekabristen.“, kann man bei Wikipedia nachlesen und noch viel mehr. Aber das tut ihr sicher sowieso selbst.

Vor zwei Jahren feierte die Stadt also ihren 300. „Geburtstag“. Die Transsibirische Eisenbahn verhalf auch Omsk zu starkem Wirtschaftswachstum. Der Irtysch verbindet nördlichere Städte in der Taiga mit Omsk. Schifffahrt gibt es zur Zeit aber eigentlich kaum.

Während des Zweiten Weltkrieges wurde hier in der „Fabrik Nr. 174“ (dem „Woroschilowwerk“) unter anderem der legendäre Panzer T-34 gebaut. Die Fabrik gibt es nicht mehr, aber einen kleinen Park mit Produkten von damals. Wegen der Militär- und Raumfahrtindustrie war auch Omsk nach dem Zweiten Weltkrieg eine geschlossene Stadt, zu der Ausländer keinen Zutritt hatten.

Omsk hat 4 Universitäten, 20 Hochschulen und mehr als 40 Forschungsinstitute. Viele junge Menschen studieren hier, finden danach aber nur schwer Arbeit und wandern nach Novosibirsk, Moskau oder Sankt Petersburg ab. Dafür ziehen viele Russen aus Kasachstan aufgrund der dortigen Situation in die Omsker Oblast. „Im Gebiet rund um Omsk findet man bis heute viele Russlanddeutsche, zum Beispiel im Deutschen Nationalkreis Asowo, die in den Kriegsjahren aus der Wolgaregion nach Sibirien und anderen Teilen der Sowjetunion verbannt wurden. Zahlreiche Dörfer unweit von Omsk … wurden von Russlandmennoniten gegründet; dort lebt heute noch eine große Zahl dieser Plattdeutsch (Plautdietsch) sprechenden Mennoniten. “ (Wikipedia)

Nochmal Wikipedia: „Omsk ist ein Kunst- und Kulturzentrum und besitzt eine sehenswerte Altstadt mit Fassaden aus mehreren Jahrhunderten. Die Nikolaus-Kathedrale (1838–1840) von Wassili Stassow sowie die Eisenbahn-Akademie von Frederik Lidwal, der in Sankt Petersburg das Grand Hotel Europe errichtete, sind einige Beispiele einer architektonisch durch und durch interessanten Stadt. Beispiele moderner Architektur sind das Musiktheater in Form einer Sprungschanze oder das Handelszentrum aus den 1980er-Jahren.“
Wir besichtigen die 2007 wieder errichtete Mariä Himmelfahrt Kathedrale (Успенский кафедральный собор).

Omsk hat 83 Bibliotheken, neun Museen und mehrere Theater. Das älteste, das Schauspielhaus, ist über 130 Jahre alt. Auch die Philharmonie und der russische Volkschor haben über die Grenzen Sibiriens hinaus einen guten Ruf.

Im Eckhaus Partizanskaja / Lenina wohnte 1919/20 Jaroslav Hasek, der Autor des „Braven Soldaten Schwejk“.

Die Omsker Gemäldegalerie im prächtigen Gouverneurs-Palast (1859 – 1862) „Michail Wrubel“ zeigt Werke von Wrubel, Ilja Repin u.v.a.m. Im Archäologischen und Völkerkundemuseum gibt es ebenfalls ein Mammutskelett anzuschauen. Wir hatten leider nicht so viel Zeit.

Kristina erzählt von den Bemühungen des russisch-deutschen Agronomen, Dendrologen, Genetikers und Selektionsforschers Herbert Gense (1904-1997) kanadische Pappeln an das raue sibirische Klima anzupassen. Auch in der Uliza Lenina wachsen heute diese noch kleinen pyramidalen Silber-Pappeln.

Sportliche Höhepunkte sind Eishockey (HK Awangard Omsk gehört übrigens wie der FC Chelsea dem Milliardär Roman Abramowitsch) und drei verschiedene jährliche Marathonläufe, darunter der SIM, der Siberian Ice Marathon (sog. Omsker Weihnachtsmarathonlauf). Da wird bei Temperaturen um −20 °C und darunter gelaufen! Am Start waren sogar Läufer aus Kenia.

Omsk hat 14 internationale Partnerstädte, aber (noch) keine in Deutschland. 2016 wurde das Kultur- und Geschäftszentrum „Russisch-Deutsches Haus // Omsk“ in Zusammenarbeit mit dem Beauftragten der Bundesregierung für Aussiedlerfragen und nationale Minderheiten eröffnet. Dort werden insbesondere Sprachkurse für alle Altersgruppen angeboten und dort arbeitet auch Kristina aktiv mit.

Bilderbuch auf:


Omsk

Tag 75, 148 km von Tjukalinsk nach Omsk, starker Wind aus der falschen Richtung

Wind aus der falschen Richtung, grober Straßenbelag und gehetzte Autofahrer machen diesen Tag zu etwas ganz Besonderen und wir können alle die große Freude nicht verhehlen ein weiteres wichtiges Etappenziel erreicht zu haben – Omsk.

In Omsk erwartet uns schon Igor, der neue Reiseleiter, dem ich das Reiseleiterrad hiermit offiziell übergebe. Er wird die Weltreisenden bis nach Krasnojarsk begleiten. Ich selbst mache mich nun auf in meine Zweitheimat Kamtschatka, wo ich den Sommer mit meinen Gästen beim Besteigen von Vulkanen und Durchstreifen von abgelegenen Naturparks und heißen Lavahöhlen verbringen werde.

Es war mir eine große Freude knapp 3000 Kilometer mit den vier Teilnehmern und Viktor, unserer guten Seele, von Nizne Novgorod nach Omsk, durch mein geliebtes Russland zu reisen. Ich wünsche Euch eine glückliche Weiterreise und freue mich die meisten von Euch in Laos wiederzusehen. Alles Gute und Shastlivovo Puti! Euer Oliver


Durch das schlafende Land …

Tag 74, 134 km von Abatskoe nach Tjukalinsk, wechselhaft und grün

Das heutige Wetter ist wechselhafter als im April und bietet alles … wärmende Sonne und peitschenden Regen innerhalb weniger Minuten. Der zahlreiche Schwerlastverkehr ist meistens erstaunlich rücksichtsvoll, kein Wunder, sind wir doch wieder ein Thema im Äther der Truckerwelle und die Fahrer sind gewarnt, dass deutsche Radfahrer bereit sind um jeden Zentimeter zu kämpfen. Oft siegt allerdings der Klügere …

Trotz alle Wetterkapriolen meint es unser Freund -der Wind- gut mit uns und bläst stetig gen Osten und uns zügig dem Tagesziel Tjukalinsk entgegen.


E 30 aka Sibirskie Trakt

Tag 73, 73 km von Ischim nach Abatskoe, Regen in Westsibirien kann auch schön sein …

Die ganze Nacht trommelt heftiger Platzregen auf das Blechdach unserer Unterkunft und wir verschieben die Abfahrt am heutigen Morgen solange bis es Mittag ist … wir können uns es leisten, denn heute liegen nur knapp 70 Kilometer vor uns. Wunderbar, nach dem Frühstück nochmals ins angewärmte Bett zu verschwinden …

Das heutige Gelände ist anspruchslos, mitnichten aber langweilig. Abermals Mischwälder, Weideflächen, ausgedehnte Agrarflächen und wieder spannende Gerüche. Heute liegt vorrangig Kuh und deren Ausscheidungsprodukte in der Luft.  Das weckt Erinnerungen an meine Kindheit auf dem Lande, durchweg positive Assoziationen … die nicht alle Mitreisenden teilen können.

Die Versuche die dicht befahrene Magistrale, die mittlerweile E 30 genannt wird, zu umgehen endet an aufgeweichten Feldwegen, von denen die Einheimischen behaupten diese Pfade selbst mit dem Traktor nur ungern zu befahren.  Dafür ist das Dorf malerisch (zumindestens für Touristen die mal eben mit dem Fahrrad hindurch fahren und mit den Einheimischen ein paar Worte wechseln) und hinter dem Mond (für die Einheimischen die ein paar Worte mit komischen Touristen wechseln und sich wundern wie man auf die Idee kommen könnte die gute Hauptstraße zu verlassen).

Abatskoe, das Tagesziel, ist Kreiszentrum, ein großes Dorf im topfebenen Westsibirien ein Steinwurf von der kasachischen Grenze entfernt, Raststation vieler LKW-Fahrer die wochenlang unterwegs sind und unser Zuhause für ein paar Stunden, die wir uns in der lokalen Banja und im hervorragenden Truckstop-Restaurant versüßen.


Stalin in Sibirien

Tag 72, 90 km vom Golyshmanovo nach Ischim, flach und schön

Weltreiseradleralltag. Das perfekte Asphaltband zieht sich kilometerweit durch lichte Wälder, die Lerchen balzen im Unterholz, es duftet nach dem Harz der Kiefern und frischem Gras nach kurzem Sommerregen. Jeder hängt seinen Gedanken nach, winkt gelegentlich einem Hirten oder einer Babuschka am Straßenrand, und die Zeit vergeht wie im Flug.

Ischim, unser heutiges Tagesziel, wartet noch mit einer kleinen Überraschung auf, die es so mittlerweile auch in Russland selten gibt. Wir finden hier eine Büste jenes Mannes, der das 20.Jahrhundert wie kaum ein Zweiter prägte, geschätzte 20 Millionen Menschen auf dem Gewissen hat und Abermillionen Deportationen veranlasst hat – Generalissimus Josef Stalin.  Die Blumen am Denkmal sind frisch … und die Erinnerungen eindeutig verklärt.


R 402

Tag 71, 131 km vom Zavodoukovsk nach Golyshmanovo, flach und windiges Westsibirien

Ein weiterer Tag auf der topfebenen R 402 Richtung Omsk. Lichte Wälder und frisch bestellte Felder wechseln sich in regelmäßigen Abständen ab und Siedlungen sind oft nur am Horizont zu erahnen. Die Gerüche verraten wie die Menschen hier ihr Einkommen erwirtschaften. Erdige schwere und angenehme Düfte verraten die Landwirte die hier vorrangig in Weizen, Mais und Raps investieren und die beißenden Gerüche verraten die Viehzüchter. Die feinen Nuancen lassen problemlos erkennen ob Hühner, Schweine oder Rinder in den riesigen Hallenkomplexen eingepfercht sind.

Aus Mangel an West-Ost-Verbindungen ist die R 402 ein Fernreise-Nadelöhr für Globetrotter. Scharren von chinesischen Automobilisten kommen uns entgegen auf ihrem Weg nach Westen und deutsche Wohnmobilreisende und diverse Motorradfahrer, heute in Form von drei Franzosen auf dem Weg in die Mongolei und zwei Motorradrocker aus Tjumen auf den Weg nach Kasachstan, folgen uns nach Osten. Gespräche sind selten, nur dann wenn wir zufällig, in den mittlerweile spärlich gesähten Cafe’s, gemeinsam pausieren.

Nicht selten wartet Viktor in unserem Versorgungsfahrzeug für einige Stunden ehe auch der letzte Radler eingetroffen ist. Heute hat er über sein Funkgerät die lokalen Trucker abgehört und sich gar in ihre Gespräche eingemischt. Die Radreisenden waren das Thema im Äther, und während die Fernfahrerkollegen auf die Radler hinwiesen und um Rücksicht baten, berichtete unser Fahrer nicht ohne Stolz über das Fahrradfernreiseprojekt. Die Meinung der LKW-Fahrer ist einhellig: „Respekt, ihr Prachtkerle! Allzeit gute Fahrt und ebene Pfade …“


Auf nach Omsk

70. Reisetag, von Tjumen nach Zawodoukowsk, 101 km

Bei sonnigem Wetter starteten wir um 8:30 Uhr mit dem Ziel die nächste Großstadt Omsk in 6 Radtagen ohne Ruhetag zu erreichen.

Die Stadtausfahrt aus Tjumen gestaltete sich für uns Radfahrer angenehm, da wir uns an den im Stau stehenden Autos vorbeischleichen konnten. Als wir dann die „Straße der Autohäuser“ hinter uns gelassen hatten, lichtete sich die Bebauung. Noch ein paar Ortschaften dicht hintereinander und bald hatten wir die „sibirische Weite“ erreicht, in die wir auf unserer Straße in unterschiedlichen Ausbaustufen vordringen.

Die Weite ist unbeschreiblich, nahe der Straße teilweise noch von Stromleitungen unterbrochen, aber sonst nur grün, soweit das Auge sehen kann. Kein Hinweis auf menschliche Besiedlung, nichts. Nicht so wie bei uns, wo irgendwo immer wieder ein Kirchturm herausschaut. Eine Weite, die wir im dicht besiedelten Mitteleuropa nicht mehr finden können.

Aus den neben der Straße befindlichen Wäldern, Sümpfen, Grünflächen klingt ein vielstimmiger Vogelchor zu uns, sofern er nicht vom Straßenlärm übertönt wird. Über uns kreisen Raubvögel unterschiedlicher Größe – heute meine ich auch einen Adler erkannt zu haben – teilweise angegriffen von kleineren Vögeln, die Sorge um ihre gerade geschlüpften Jungen haben.
Größe Tiere haben wir lebend noch nicht gesehen, da sie genügend Natur haben um sich darin zu verbergen, ganz selten liegt am Straßenrad ein überfahrenes Tier. Hier haben wir bisher – ohne Katzen und Igel in der Nähe von Ortschaften – „gesammelt“: Fuchs, Greifvogel (könnte eine Eule gewesen sein), Feldhase, Biber, Rehkitz, Hunde (in einem Fall wird auch die Meinung vertreten, dass es ein Wolf war).

Unterwegs wird der Reisende vor Zecken gewarnt und ihm eine Impfung per Werbeplakat ans Herz gelegt. Nicht gewarnt wird vor 6-beinigen Fluginsekten mit Saugrüssel. Sofort bei jedem Halt wird man zahlreich umschwärmt. Menschenerfahrung haben sie allerdings nicht, wenn sie auf einem sitzen und noch überlegen wie man am besten zusticht, kann man sie leicht zerdrücken. Die Stiche jucken nicht und vergehen sehr schnell, wenn man doch erwischt wurde.

Die Flora hier hat immer noch ihr Frühlingsgewand an. Es blüht der Löwenzahn, der Flieder in der Stadt wird es bald schaffen, Obstbäume, Traubenkirsche strahlen in weißer Blütenpracht. Ein Frühjahr von Mitte April in Deutschland bis Mitte Juni und darüber hinaus, wer hat das schon und kann es genießen? Der Langstreckenradler in Russland! Auch Maikäfer sind wieder aufgetaucht, ob die hier auch dem Mai zugeordnet wurden?


Schiffbau in Sibirien, ein Doschtschanik im Wappen und riesige Ölvorräte

Bilderbuch vom 69. Reisetag in Tjumen, sommerlich sonnig und windig. Von Peter Frenzel.

Tjumen (Тюмень; Betonung auf dem e !) ist die Hauptstadt der gleichnamigen russischen Oblast in Westsibirien. Sie hat etwa 700.000 Einwohner, ist also ungefähr so groß wie Frankfurt am Main, liegt aber am Fluss Tura. Bis Moskau sind es von hier ca. 1700 km Luftlinie.
Geradelt sind wir bis hierher rund 2300 km.

In der Oblast leben vor allem Russen (80 %), aber auch eine Vielzahl anderer Ethnien, wie Tataren, Ukrainer, Russlanddeutsche, Tschuwaschen, Weißrussen, Baschkiren, Kirgisen und Inguschen.
Übrigens, eine Oblast (ja, ist wirklich weiblich) bedeutet wörtlich „Gebiet“ und ist die Bezeichnung für einen größeren Verwaltungsbezirk, von denen es viele gibt. Noch öfter wechseln wir die Rajons. Diese sind kleinere Verwaltungsbezirke innerhalb der Oblaste und entsprechen in etwa den deutschen Landkreisen bzw. den österreichischen Bezirken. Machmal radeln wir an einem Tag durch 3-5 Rajons.
Tjumen selbst ist heute in 4 Stadtrajons gegliedert und zählt zu den ältesten russischen Ansiedlungen Sibiriens.

Wikipedia schreibt: „Es wurde bereits 1586 als Fort der Kosaken an der Mündung der Flüsse Tjumenka und Tura zum Schutz gegen die Steppennomaden gegründet. Seit dem 17. Jahrhundert war Tjumen ein wichtiger Transitpunkt auf dem Handelsweg von Sibirien nach China. Tjumen wurde Handelszentrum und bedeutendes Handwerkerzentrum mit Schmieden, Glockengießereien, Lederverarbeitung und Seifenproduktion. Seit 1709 gehörte Tjumen zum Sibirischen Gouvernement. 1782 erhielt Tjumen das Stadtrecht und wurde 1796 Kreisstadt im Gouvernement Tobolsk. Mit dem Bau des ersten Schiffes in Sibirien 1838 begann in Tjumen die Flussschifffahrt, auch wurde eine Bahnlinie nach Jekaterinburg gebaut. Tjumen wurde zum Zentrum für Schiffbau, Holzverarbeitung und Fischfang, auch die Teppichproduktion war stark entwickelt.“

Um erste eigene Entdeckungen zu machen, bummeln wir nach Ausschlafen und spätem Frühstück der Nase nach durch die Stadt und am Flußufer entlang. Am Nachmittag treffen wir uns dann mit Andrej zu einem weiteren Stadtrundgang. Er hat in Tjumen Germanistik studiert und spricht perfekt deutsch. Unterwegs erfahren wir viel interessantes über die Stadt und die Oblast.

Tjumen liegt an der Hauptstrecke der Transsibirischen Eisenbahn, aber wirtschaftlich noch wichtiger ist: 80-85% der russischen Erdölvorräte „lagern“ in der Oblast. Also ist die petrochemische Industrie mit allen großen russischen Firmen (Rosneft, LukOil, BashNeft …) hier repräsentativ vertreten und bestimmt auch das Studienangebot der Bildungseinrichtungen.
Aufgrund des Reichtums an Erdöl und Erdgas zählen Stadt und Gebiet zu den reichsten Russlands, fordern aber auch deutlich höhere Preise für’s Wohnen etc.

In Tjumen gibt es mehrere Universitäten und Hochschulen, natürlich viele Kultureinrichtungen und selbstverständlich einen ständigen Zirkus.

In der Stadt stehen noch viele ältere Häuser, meist aus Holz, neben neu gebauten oder in den letzten Jahren restaurierten und renovierten Wohnblocks.
In einem dieser Holzhäuser ist seit 2008 das „Haus der russisch-deutschen Freundschaft“, in Zusammenarbeit mit Celle, einer Partnerstadt Tjumens, untergebracht.

Andrej nimmt uns mit in das „Stadtuma“-Museum. Hier bestaunen wir unter anderem das Gerippe eines fossilen Mammuts. Das Museumsgebäude selbst ist auch ein außergewöhnliches architektonisches Denkmal. Hier tagte zur Zarenzeit die Duma der Stadt.

1942, also während des 2. Weltkrieges, wurde der Sarg mit Lenins Leichnam aus dem Mausoleum in Moskau nach Tjumen in ein Fakultätsgebäude evakuiert. Die Ehrenwache zog jedoch weiterhin vor dem Moskauer Mausoleum auf, so daß die Auslagerung von den Einwohnern kaum bemerkt wurde.

Georg Wilhelm Steller (1709–1746, er studierte u.a. in Wittenberg, lebte eine Zeit lang auch in Kamtschatka), ein legendärer deutscher Arzt und Naturforscher, starb hier auf seiner Rückreise von Sibirien nach Sankt Petersburg. An ihn erinnert heute eine Gedenktafel.

Bilderbuch auf:


Nach Tjumen!

Tag 68, 155 km von Pyschma nach Tjumen, Rückenwind, Platzregen, viel Verkehr aber trotzdem schön …

Text: Karin Becker, Photos: Oliver Schmidt

Bei Oliver liegen die beiden verspielten Hofhunde vor der Tür. Kein Wunder, sie wollen wieder gestreichelt werden, so wie gestern Abend.
Frühstück gibt’s vorne an der Kaffeebude, und es ist ausgesprochen lecker. Überall sind Pfützen auf dem Hof, nachts hat es geregnet. Doch bei unserer Abfahrt scheint die Sonne und die Temperaturen steigen.

Wie gestern folgen wir auch heute wieder der E22. Die Gegend ist flach, die Felder bestellt, Kreuze gibt’s reichlich, keine Dörfer, keine Bushaltestellen, nichts als Gegend. Was denken? Warum ist eigentlich noch keiner auf die Idee gekommen, mit einem Magneten die Standstreifen nach Altmetall abzusammeln. Man könnte bestimmt ein nettes Taschengeld damit zusammen kriegen.

Bei der heutigen langen Strecke wartet Viktor alle 30 Kilometer auf uns.

Der freundlich winkende Polizist meint dieses Mal tatsächlich mich! Als ich seine Frage auf deutsch beantworte, amüsieren sich alle umstehenden Kollegen. Er beäugt mein Rad, mich und ist zufrieden als ich „Tjumen“ sage, wo wir heute übernachten. Ein freundliches Doswidanja, also auf Wiedersehen, und winkt mich weiter.

Rechterhand liegt ein toter Wolf am Standstreifen, den die anderen aber nicht mitkriegen. Kein Wunder, bei dem Höllentempo, das sie fahren. Dabei hätten sie ihn wenigstens riechen müssen.

Picknick auf einer mückenverseuchten Wiese. Der Himmel ist rabenschwarz. Kurz darauf bricht ein Gewitter über uns herein. Ratzfatz ist alles im Auto. Als es heller wird bleibe ich bei Viktor, denn 155 Kilometer wollte ich mir nicht antun, zumal der Verkehr immer mehr wird.

Wir verabreden noch einen Boxenstopp vor Tjumen. Als die drei Radler ankommen schnarchen Viktor und ich lautstark im Auto.

Es ist unbefriedigend im Auto eine Radreise zu machen, aber als ich die anderen von ausgefräster Straße und kilometerlangen Baustellen reden höre, war’s o.k.

Unser Hotel ist chic und modern. Wir finden ein nettes Lokal gleich um die Ecke.