Tag 88, Kemerowo – Mariinsk, 172,5 km
Schon früh verließen wir unser schickes Hotel „Time“ nach einem reichhaltigen Frühstück unweit des Flussufers des Toms, um uns auf einen Tag mit ungewisser Entfernung zu machen. Die Aussagen zur Tagesstrecke schwankten zwischen 140 km und 170 km.
Zuerst galt es jedoch den Tom (ein großer Nebenfluss in Rheinbreite des Obs und bei uns völlig unbekannt) zu überqueren und das Hochufer zu erklimmen, das uns schon die ersten Hinweise auf die Topographie des Tages gab. Unweit von dort wird aus dem bekannten Kusnezker Becken Steinkohle im Tagebau gefördert, entsprechend viel Staub liegt in der Luft und auch bald auf unserer Haut und Kleidung.
Auch dieses Gebiet haben wir bald hinter uns gelassen und wir erreichen erstmals die Taiga. Nadelbäume (Tannen, Fichten, Kiefern) mischen sich mit Birken, das Unterholz ist hoch, mit unterschiedlichen Gräsern, Büschen, Stauden, darunter auch zahlreich mit dem Riesenbärenklau (Herkulesstaude) bewachsen. Wege in das üppige Grün gibt es praktisch nicht, eindringen sollte man sicher nur mit Vollschutz und Machete.
Die Straße windet sich in Kurven nach links und rechts und zu unserer wachsenden Freude auch nach oben und unten. Eine Abwechslung für das Auge und den Radler nach der Ödnis in der Ebene des Tieflandes. Irgendwie erinnert mich die Landschaft streckenweise an den bayerischen Wald, nur wie alles in Sibirien, größer und weiter.
Nach rund 100 km haben wir eine Hochebene erreicht, auf der auch wieder Landwirtschaft betrieben wird. Der Schatten der Bäume wurde ersetzt durch die Sonne, die mit voller Wucht vom wolkenlosen Himmel strahlt, schnell klettert das Thermometer weit über 30° C. Der Asphalt der Straße leidet und klebt beim Überfahren. Überholt ein LKW, hört es sich an als ob die Straße nass ist. Der Wind bringt keine Kühlung, sondern bläst eher von vorne.
Ein spätes Mittagessen gibt es in einer der Fernfahrergaststätten, die hier immer seltener und spartanischer werden. Bald fordern die Strecke und die Wärme ihren Tribut, nach und nach füllt sich Viktors Bus mit Rädern und Radlern und der Wasservorrat schwindet.
Ein besonderer Reiz ergibt sich wenige Kilometer vor dem Ziel in Mariinsk, eine geschlossene Bahnschranke blockiert die Weiterfahrt des Busses für knapp 50 Minuten, so dass die Durchradler (Stefan, Peter, der einen persönlichen Entfernungsrekord zurückgelegt hat – Gratulation! und Gerhard) zeitgleich mit dem Bus im Hotel ankommen. Fußgänger und Radler haben an Bahnübergängen Sonderrechte und können jederzeit die Gleise queren, wenn nicht gerade der Zug vorbei donnert.
Da abends um 20 Uhr die Gärten, die zu jedem Haus in Sibirien gehören, gewässert werden, gibt es kein Wasser bzw. keinen ausreichenden Wasserdruck um den Dreckschweiß des Tages abzuwaschen, so gibt es im Wortsinn: „Schmutzbier“ und die Dusche später.
Am Ende zeigt der nicht geeichte Tacho eine Gesamtstrecke von 172,50 km mit 1317 Höhenmetern, die bisher längste Etappe der Radweltreise bei Tagestemperaturen von jenseits von 30°. Ein Beweis, dass es in Sibirien im Sommer richtig heiß werden kann.
Um so weite Strecken zu radeln, hilft nur irgendwann: „Hirn ausschalten, Augen zu und durch“, die Glücksgefühle werden dann später frei.