Hätten wir doch lieber ein Boot genommen

138 km Shcherbinki – Moskau, Straßenbelag gut, Verkehr die Hölle, teils hügelig, Wetter gut

Nicht lange nachdem wir unser idyllisches Ferienhaus im Ressort von Shcherbinki verlassen hatten, passierten wir ein größeres Kieswerk. Vermutlich wird von hier aus der Rohstoffhunger der boomenden Moskauer Bauwirtschaft befriedigt. Alle Lieferungen über unsere kleine Landstraße schienen unter einem besonderen Termindruck zu stehen.

Nach diesem Vorgeschmack des weiteres Tages gönnten wir uns zur Erholung ein georgisches Mittagessen auf einer sonnigen Terrasse oberhalb der Moskwa. Wären wir doch der Idee gefolgt uns auf dem Fluss in die russische Hauptstadt treiben zulassen – das hätte einiges an Nerven gespart.

Stattdessen endete unser Track nach einer Fahrt durch Hochhausgassen zunächst an einer Schranke. Immerhin mussten wir die Räder nicht durch einen Sumpf tragen, um dem vorgezeichneten Weg zu folgen, wie am Tag zuvor. Mit Hilfe von ortskundigen, freundlichen  Helfern war ein neuer Weg aber schnell gefunden.

Dieser führte uns zunächst durch eine Siedlung der „neuen Russen“, von deren Pracht aber nur endlose fünf Meter hohe Mauern zu beiden Seiten der Straße zeugten. Vorbei an Edelfitnessstudios und Privatkliniken radelten wir weiter hinein bis ins Herz der Metropole. Diese autobahnähnliche, urbane Schnellstraße begann  bereits 20 km vor Moskau. Jeder von uns versuchte irgendwie heil durch die links und rechts von uns stattfindenden Autorennen zu gelangen. Stefan, der eigentlich heute mit der Gruppe fahren wollte, war längst verloren gegangen. Er hat sich weiter nördlich auf der M9 durchgeschlagen und kam, ähnlich mental belastet, am Hotel an wie wir.

Im Zentrum angelangt schlugen wir uns schließlich über Nebenstraßen und den Arbat (Moskaus berühmte Fußgängerzone) bis zu unserem direkt am Kreml gelegenen Hotel durch. Das lag aber auf der anderen Straßenseite, wo uns auch schon Viktor und Gerhard, der gerade aus München ankam und neu zur Gruppe stieß, mit einem „Schmutzbier“ winkten. Das verdiente Bier musste dann aber noch knapp 20 Minuten warten, da Straßenüberquerungen in Moskau auch nicht so einfach sind.


Gedanken eines Mitradlers: Хотят ли русские войны?

Tag des Sieges / der Befreiung / der Kapitulation …

Unsere heutige Etappe findet an einem der wichtigsten Feiertage Russlands statt.

Im Blog waren ja einige Infos über die Feiertagsvorbereitungen, die wir beim Radeln beobachteten, notiert.
Wenn man(n) tagelang stundenlang zig Kilometer auf dem Fahrrad von Ort zu Ort strampelt, wälzt man(n) unweigerlich viele Gedanken im Kopf. Die vielen mal großen mal kleinen Gedenkstätten an die Toten aus der Zeit des Überfalls der deutschen Wehrmacht und SS-Einheiten auf die UdSSR am Weg haben da, zumindest bei mir, großen Raum eingenommen.

Wikipedia schreibt:
„Der 8. Mai ist als Tag der Befreiung in verschiedenen europäischen Ländern ein Gedenktag, an dem der bedingungslosen Kapitulation der Wehrmacht und damit des Endes des Zweiten Weltkrieges in Europa und der Befreiung vom Nationalsozialismus gedacht wird.“
Das ist also der Tag aus der Sicht des Agressors, der dann halt besiegt wurde und kapituliert hatte.

Die Völker Europas, einschließlich Deutschlands waren damals nicht selbst in der Lage (oder bereit), sich von der Naziherrschaft zu befreien. Sie waren auf Hilfe von den alliierten Armeen aus der Sowjetunion, den USA, Englands und Frankreichs angewiesen.
Für die meisten Menschen in den Ländern Europas war der Tag also in der Tat ein Tag der Befreiung.

In den Niederlanden wird der Bevrijdingsdag am 5. Mai begangen.
Auch in anderen Staaten wird der Jahrestag des Kriegsendes als Feiertag begangen, so in Frankreich, Tschechien und der Slowakei.
In der DDR war er von 1950 bis 1967 und im Jahr 1985 (40. Jahrestag) sogar gesetzlicher Feiertag.

In der offiziellen BRD ist er nach wie vor der Tag der Kapitulation. Je nach geschichtlichem Bezug und historischer Sichtweise eben …
Frankfurter Rundschau / Zeit-Online u.a. gestern:
Was geschah am … Kalenderblatt 2018: 8. Mai

1945 – Mit der Kapitulation des Deutschen Reiches geht der Zweite Weltkrieg in Europa zu Ende.
(http://www.fr.de/panorama/kalenderblatt/was-geschah-am-kalenderblatt-2018-8-mai-a-1501862)

Immerhin bezeichnete der frühere Bundespräsident Richard von Weizsäcker in seiner Rede zum 40. Jahrestag der Beendigung des Krieges den 8. Mai als „Tag der Befreiung […] von dem menschenverachtenden System der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft“.

Sein späterer Nachfolger Pfarrer Gauck, der unentwegt von und über Freiheit referierte, schaffte es in seiner gesamten Amtszeit nicht einmal, einen Besuch im heutigen Russland in seinen Terminkalender aufzunehmen. Ich nenn sowas zumindest schäbig.
Die Kanzlerin reiste 2015 erst Tage nach den Feierlichkeiten zum 70. Jahrestag nach Moskau.
Weiß jemand, ob F.-W. Steinmeier als Präsident schon mal da war?

Viele viele Familien in Russland beklagen noch heute tote Angehörige durch den von Hitlerdeutschland angezettelten Krieg und Westeuropa unterstellt heute dem Land, eine wachsende Kriegsgefahr zu sein?
Uns ist die Begegnung mit Katarina Aleksandrowna beim Stop in dem Dorf, in dem sie heute lebt, noch allgegenwärtig.
Sie wünscht sich niemals einen neuen Krieg. Da bin ich ganz sicher.

Heute gibt es schätzungsweise 25 russische Militärstützpunkte in neun ehemaligen Sowjetrepubliken. Zumindest einen dürfte es in Syrien geben.
Die USA betreiben mehr als 1000 Militärstützpunkte weltweit. Ist die Welt dadurch sicherer geworden, gibt es weniger Kriegsgebiete und wer bitte bedroht dann folglich wen?

Mit Sanktionen, Embargos und NATO-Waffen an den Grenzen zu Russland wird es niemals möglich sein, gegenseitiges Vertrauen zu schaffen und dauerhaft den Frieden zu bewahren.
Unsere Radtour ist hoffentlich ein, wenn auch ganz kleiner Beitrag zu zeigen, das keine deutschen Panzer nötig sind, um gen Russland zu fahren. Sich bei Radelpausen zu begegnen, miteinander zu sprechen, zu fachsimpeln, sich ohne fundierte Sprachkenntnisse zu verstehen ist allemal der bessere Weg. Für uns alle!

Viele Plakate und Transparente gibt es anläßlich des Feiertags. Gestern Morgen sah ich im vorbeiradeln eins mit den Worten: „Danke Väter für den Sieg“.

Ich denke, auch wir sollten jedes Jahr den Befreiern Danke sagen oder gibt es wirklich einen Grund, das zu verweigern?

Mir fielen für den heutigen Feiertag die nachfolgenden Verse eines bekannten sowjetischen Dichters ein.

Jewgeni Jewtuschenko

Meinst du, die Russen wollen Krieg?

Meinst du, die Russem wollen Krieg?
Befrag die Stille, die da schwieg
im weiten Feld, im Pappelhain,
Befrag die Birken an dem Rain.
Dort, wo er liegt in seinem Grab,
den russischen Soldaten frag!
Sein Sohn dir drauf Antwort gibt:

Meinst du, die Russen woll’n,
meinst du, die Russen woll’n,
meinst du, die Russen wollen Krieg?

Nicht nur fürs eig’ne Vaterland
fiel der Soldat im Weltenbrand.
Nein, daß auf Erden jedermann
in Ruhe schlafen gehen kann.
Holt euch bei jenem Kämpfer Rat,
der siegend an die Elbe trat,
was tief in unsren Herzen blieb:

Meinst du, die Russen woll’n,
meinst du, die Russen woll’n,
meinst du, die Russen wollen Krieg?

Der Kampf hat uns nicht schwach gesehn,
doch nie mehr möge es geschehn,
daß Menschenblut, so rot und heiß,
der bitt’ren Erde werd‘ zum Preis.
Frag Mütter, die seit damals grau,
befrag doch bitte meine Frau.
Die Antwort in der Frage liegt:

Meinst du, die Russen woll’n,
meinst du, die Russen woll’n,
meinst du, die Russen wollen Krieg?

Es weiß, wer schmiedet und wer webt,
es weiß, wer ackert und wer sät –
ein jedes Volk die Wahrheit sieht:

Meinst du, die Russen woll’n,
meinst du, die Russen woll’n,
meinst du, die Russen wollen Krieg?
(1961)
Hier der russische Text:

Хотят ли русские войны?

Хотят ли русские войны?
Спросите вы у тишины
Над ширью пашен и полей,
И у берёз и тополей.
Спросите вы у тех солдат,
Что под берёзами лежат,
И вам ответят их сыны –

Хотят ли русские,
Хотят ли русские,
Хотят ли русские войны!

Не только за свою страну
Они погибли в ту войну,
А чтобы люди всей земли
Спокойно ночью спать могли.
Спросите тех, кто воевал,
Кто вас на Эльбе обнимал,-
Мы этой памяти верны.

Хотят ли русские,
Хотят ли русские,
Хотят ли русские войны!

Да, мы умеем воевать,
Но не хотим, чтобы опять
Солдаты падали в бою
На землю горькую свою.
Спросите вы у матерей,
Спросите у жены моей,
И вы тогда понять должны –

Хотят ли русские,
Хотят ли русские,
Хотят ли русские войны!

…Поймёт и докер, и рыбак,
Поймёт рабочий и батрак,
Поймёт народ любой страны –

Хотят ли русские,
Хотят ли русские,
Хотят ли русские войны!

Евгений Евтушенко
(1961 г.)

[Dieser Blog-Eintrag wurde kurz nach der Veröffentlichung gelöscht und es konnte nicht geklärt werden, warum und von wem. Ich veröffentliche ihn hiermit neu, aber unter der Kategorie „Mitradler …“ und hoffe, er wird nicht erneut Opfer einer ungeklärten „Zensur“. pf 28.5.2018]

Abkürzung mit Zeitverlust, Erlebnispiste M9, bisher am besten gesicherte Unterkunft

138 km von Rschew nach Schtscherbinki, sonnig aber windig (und fast immer nur von vorn …)

Unsere heutige Etappe findet an einem der wichtigsten Feiertage Russlands statt, dem Tag des Sieges.
Dazu schreib ich aber noch extra was.

Schon in den zurückliegenden Tagen beobachteten wir, daß in vielen Orten die Gedenkstätten an den Sieg über die militärischen Aggressoren aus dem faschistischen Deutschland im 2. Weltkrieg für diesen Tag vorbereitet wurden. Viele Menschen waren am Putzen, Harken, Blumen pflanzen und Kränze platzieren.
Im Blog gab es bereits Infos dazu.

Wir haben ein langes Stück Weg vor uns und starten schon kurz nach 8 Uhr. Rschew wacht langsam auf und wir können ahnen, wo sich die Menschen zum Feiern treffen werden. Wir radeln an einer kleinen Ausstellung nicht mehr ganz neuer, aber sicher sehr bewährter Raketenwaffen vorbei und überqueren zum ersten Mal die Wolga, die hier noch relativ schmal das Land durchfließt.

Das Navi schlägt eine Abkürzung auf dem Weg zur Autobahn M9 vor, der wir vertrauen. Der letzte Kilometer gleicht leider einer Seenplatte und wir legen mindestens 30 Minuten Reisezeit drauf. Am Abend ordnen wir das missliche Stück jedoch schon als Abenteuererlebnis ein.

Die 81 km auf der M9 bei echt lästigem Gegenwind bringen eine weitere längere Erfahrung, wie Verkehr auf Russlands Fernstraßen rollt. Fahrradfahrer- und -innen sind unbekannt und werden schlicht ignoriert.
Ich trage ja seit Novgorod eine leuchtend rote Warnweste, aber die scheint nicht viel zu bewirken und wenn, dann offenbar als Leuchtpunkt zur besseren Zielaufklärung.
Brummis, die mit 50 cm Abstand überholen, Ego-Raser am Steuer neuer und möglichst großer westeuropäischer Spritschleudern, die einem beim Überholen auf der eigenen Fahrspur direkt entgegenheizen und auch nicht viel mehr als 1 m Abstand zum Radler halten. 110 km/h sind das Limit, doch daran halten sich wohl nur die Ladas aus dem vorigen Jahrtausend.

Wir sind alle gesund am Tagesziel angekommen, uff.

Unterwegs liegen große und kleine Orte, in denen die Menschen den sonnigen Feiertag genießen.
Stefan konnte bei seiner Mittagspause in einem Café am TV ein wenig von der Parade in Moskau sehen, zusammen mit vielen anderen Gästen im Lokal.

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Die Straße hier nach rechts führt weiter nach Wolokolamsk. Stefan war allein dorthin gefahren. Das „Hauptfeld“ bog hier Richtung Schtscherbinki auf eine ruhigere Straße ab.

Im „Reiseverlauf“ steht für diesen 39. Tag:
„Wir nähern uns der russischen Hauptstadt und erreichen einen Ort, den Moskau schon in seinen Straßen benennt. Die deutschen Truppen sind hier stecken geblieben und in der DDR wurde die Wolokolamsker Chaussee durch Heiner Müller berühmt und Sinnbild für die Stagnation revolutionärer Gedanken. Für die Russen freilich ist es „nur ein Vorort“ von Moskau.“

Das erinnerte mich an den folgenden Text:
An der Wolokolamsker Chaussee
(Danke Astrid für die Recherche)

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Worte: Helmut Kontauts / Weise: Helmut Kontauts / Kategorie: Singebewegung

Es lagen junge Soldaten an der Wolokolamsker Chaussee,
und manch einer hat da gezittert, nicht nur von der Kälte im Schnee.
Der Feind rückte näher und näher, es war ihre erste Schlacht.
Der Kommandeur ging von einem zum andern und hat ihnen Mut gemacht.

In den Kampf ziehen wir nicht um zu sterben.
Nur der Tod der Feinde ist gerecht.
Wer das Leben bedroht, der zieht in den Tod.
Das Leben schickt uns ins Gefecht.

Die Furcht, die wurde nicht kleiner, und da hat voller Zorn er geflucht,
ging wieder von einem zum andern und hat zu erklären versucht:
Durch die Steppe in Sonne und Regen hat euch oft mein Befehl gejagt,
damit ihr auch in den schwersten Minuten die Härten des Krieges vertragt.

Der Feind brach in ihre Reihen, da hat sie der Hass übermannt,
der machte sie ruhig und sicher und hat alle Ängste gebannt.
Sie waren marschiert durch den Regen, kannten Schweiß in der Sonnenglut,
und Schweiß und Hass und die Liebe zum Leben, das wurde ihr Heldenmut.
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Hier das Lied auf Youtube

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Viktor schenkte mir diese Glückwunschkarte mit der von vielen zum Feiertag getragenen Schleife und 10 Liedern dazu. Ich möchte dieses Geschenk mit euch teilen.

Spät abends erreichen wir unsere heutige Unterkunft. Ein nettes Häuschen im Wald, davor Wachposten an einem Schlagbaum und 500 m weiter an einem hohen eisernen Tor.
Privatgelände. Die attraktiven Blockhäuser gegenüber stehen z.T. erst seit 3 Jahren. Davor parken Daimler-SUVs …

Wir haben hier keinen Internet-Zugang. Der Blog wird also erst 1-2 Tage später veröffentlicht werden.
Danke für eure Geduld. 😉


„So weit bin ich noch nie gefahren“

Ca. 147 km von Ostaschkov nach Rschew, durchgehend asphaltierte Straße mit mäßigem Belag, immer wieder Hügel, durchgehend Sonnenschein

Frühstück um halb acht war das Resultat zäher Verhandlungen am gestrigen Abend im Hotel. Unser Beharren lohnte sich, denn heute erwartete uns die längste Strecke der bisherigen Tour. Zudem sollte es auch noch etwas hügelig bei mäßigem Zustand des Asphaltbelags werden. So fiel heute manchen zum erste Mal auf -seit ich dabei bin-, dass der Begleitbus mehr Platz bietet als nur für Koffer und Essen. Dank eines am Vortag besorgten geräucherten Fisches (einer Brasse) und der russischen Spezialität „Sala“ (Räucherspeck) hatten alle aber doch genügend Kraft für die knapp 150 km.

Allen steckten beim abendlichen Gang zum Essen in einem Biergarten die Touren der letzten Tage in den Knochen. Karin fasste den heutigen Tag mit den Worten „So weit bin ich noch nie Rad gefahren“ zusammen und Peter schloss sich der Aussage an.

Uns bleiben aber noch zwei satte Etappen, bevor wir in Moskau dann zwei Tage den Sattel schonen können.


Katrina Alexandrovna

113 km von Demjansk nach Ostaschkov, Straße eher nicht so gut, teils Sandpiste, leicht hügelig, sonniges, warmes Wetter

„Die Straße ist richtig schlecht“, haben uns zwei Radler aus Moskau, die auch in unserem Hotel übernachteten und in entgegengesetzter Richtung unterwegs waren, gewarnt. Etwas Hoffnung gaben uns dann aber ihre eher an Rennräder erinnernden Gefährte, die sie neben unseren robusten Modellen im Foyer angeschlossen hatten. „Da müssten wir mit unseren doch erst recht durch kommen“, wurde da als Losung ausgegeben. Sind wir schließlich auch, aber mitten in der Sandpiste hat Peter die Ankunftszeit frustriert auf ca. 22 Uhr abends hochgerechnet. Es wurden dann doch moderate 17:45 Uhr, da gegen Ende die Piste zur Straße wurde. Die Schnelligkeit seines leichteren Mifa-Traditionsrades aber konnte Stefan heute nicht ausspielen.

Eine wirklich interessante Begegnung hatten wir heute, die sich Peter gestern schon ausdrücklich gewünscht hatte. Da wollte ich ihm aber keine große Hoffnung machen. Nach all den vielen Kriegsgeschichten wünschte er sich einen Zeitzeugen herbei.

Heute stand plötzlich eine kleine, alte Frau vor unserem Wagen als wir in einem Dorf Pause machten. Die rüstige Dame war interessiert daran was wir zu verkaufen hätten. Das Missverständnis war schnell aufgeklärt und Katrina Alexandrovna erzählte klar und interessant aus ihrem 88-jährigen Leben und der Zeit, als die Deutschen da waren. Einer der Soldaten sprach Russisch und warnte sie vor einer anderen deutschen, gefährlichen Einheit. So gab es aus dieser schrecklichen Zeit, in der sie als junges Mädchen schon als Hilfskrankenschwester eingesetzt wurde, auch kleine positive Erinnerungen.


Gitler kaputt!!

93 km von Staraja Russa nach Demjansk, Straße überwiegend gut, fast kein Verkehr, sonnig

„Gitler kaputt“ ruft uns ein Junge aus einer Gruppe scherzhaft nach, als wir morgens durch Staraja Russa radeln und er gehört hatte, dass wir Deutsch reden. Diesen Ausspruch kennt hier jeder, denn in den vielen russischen Fernsehkanälen werden die sowjetischen Kriegsdramen gerne wiederholt und dieser Aufruf zur Kapitulation darf nicht fehlen (da es im Russischen kein „H“ gibt wird der große Diktator mit „Gitler“ übersetzt).

Auch uns lässt das Kriegsthema nicht los. Alle paar Kilometer treffen wir auf gut gepflegte Gedenkstätten, Kriegsgräber oder sogar ausgestellte Panzer. Diese Gegend war im Zweiten Weltkrieg stark umkämpft. Unser heutiges Etappenziel, das Dorf Demjansk, ist denjenigen, die sich für Schlachten des Zweiten Weltkriegs interessieren (ich persönlich kenne allerdings niemanden, der das tut), ein Begriff, denn hier hat die Rote Armee über einen längeren Zeitraum über 100.000 deutsche Soldaten eingekesselt.

Nach einiger Zeit radeln durch fast menschenleere Wald- und Sumpfgebiete treffen wir auf ein größeres Zeltlager. Ein junger Mann in Militärkleidung erklärt uns, dass sie Freiwillige seien, die in privater Initiative die sterblichen Überreste ihrer Großvätergeneration ausgraben. Sie kämen aus unterschiedlichen Gegenden Russlands und hätten bei St. Petersburg auch schon mit Deutschen gemeinsam gegraben. Später treffen wir auch noch auf ein deutsches Gräberfeld, das die Kriegsgräberfürsorge hergerichtet hat.

An unserem Ziel angekommen, gibt es statt des Schmutzbiers heute das letzte warme Abendessen, was hier zu bekommen ist, denn das Restaurant war im Begriff zu schließen. Auf das Bier haben wir natürlich trotzdem nicht verzichtet, wir haben ja unsere Vorräte.


Wie eine Kugel durchs Labyrinth

Weliki Novgorod nach Staraja Russa, 135 km, Wetter überwiegend gut

Die Temperatur hatte sich deutlich abgekühlt, als wir heute Morgen unsere royale Schlafstätte nahe der Uferpromenade der Wolchow verlassen haben. Zarin Katharina die Große schlief in dem eigens für sie errichteten Komplex allerdings nur einmal und auch nicht in einem unserer Betten. In unserem Trakt wurde wohl eher das sie begleitende Gesinde untergebracht.

Wir haben uns bei der Umfahrung des Ilmensees noch eine Schicht mehr angezogen. Auf ruhigen Straßen ging es Richtung Autobahn. Anschließend durften wir ein kurzes Stück auf der Hauptstraße zwischen St. Petersburg und Moskau zurücklegen und feststellen, dass auch in Russland ein Großteil der Güter mit dem LKW transportiert wird.

Stefan hat sich gleich in einer Truckerkneipe ein Mittagessen gegönnt und ist unabhängig gefahren. Wir anderen fuhren auf einer verträumten Landstraße mit perfektem Belag und wenig Verkehr, nur von unseren Snackpausen mit Viktor und einem kleinen Regenschauer unterbrochen, unserem Etappenziel entgegen.

10 km vor Staraja Russa (dem alten Russa) mussten wir schlagartig unseren Fahrstil ändern, denn die Straße war plötzlich von unzähligen Schlaglöchern durchsetzt. Die nun einsetzende Fahrt erinnerte mich an das Geschicklichkeitsspiel, bei dem eine Metallkugel durch Kippen des Untergrundes auf einer vorgegebenen Linie an Löchern vorbei durch ein Labyrinth manövriert werden muss. Leider fehlte bei unserer Variante die Linie und die gute Übersicht.

Hat sich die mittelalterliche Salinenstadt Russa den Beinamen „Staraja“ vielleicht durch den Zustand ihrer Straßen erworben?


Bilderbuch am Ruhetag in Вели́кий Но́вгород (34. Reisetag)

5 km Stadtbesichtigung zu Fuß, Aprilwetter, kleine Radelwäsche und entspannen

Wir reisen weiter auf den Spuren der über tausendjährigen Geschichte Russlands. Am heutigen „Ruhetag“ erfahren wir mehr über die „Bedeutende Neustadt“, wie man(n) den Namen Weliki Nowgorod (Вели́кий Но́вгород) wörtlich übersetzen könnte. Sie ist eine der ältesten Städte Russlands und feierte im September 2009 ihr 1150-jähriges Bestehen. Sie liegt etwa 180 km südsüdöstlich von Sankt Petersburg am Fluss Wolchow nördlich des Ilmensees (Ильмень Озеро). Schon im Mittelalter war Nowgorod Hauptstadt einer einflussreichen Handelsrepublik und wichtiger Mittler zwischen der Rus und den westlich gelegenen Ländern. Später wurde sie Teil des zentralisierten russischen Reichs.

Nowgorods architektonisches Erbe ist seit 1992 UNESCO-Weltkulturerbe.

Um 11 Uhr treffen wir Marina, die uns auf einem Stadtrundgang begleitet. Leider trifft der Wetterbericht voll zu – Sonnenschein und kurze Regenschauer wechseln sich ab.

Stefan war derweil mit dem Rad zum Ilmensee unterwegs. Südöstlich dieses Sees hatte z.B. die Rote Armee während des Zweiten Weltkriegs nach dem Überfall der deutschen Aggressoren auf die Sowjetunion im Kessel von Demjansk seit Anfang 1942 etwa 100.000 Wehrmachtssoldaten fast ein Jahr lang eingeschlossen.

Wir beginnen unseren Rundgang am Kreml und Marina erzählt von den Anfängen der Ansiedlung, aus der in kurzer Zeit ein bedeutender Handelsplatz wurde, in dem zeitweise 40.000 Einwohner lebten. Da war an Moskau oder gar St. Petersburg noch gar nicht zu denken. Später verlagerten sich die Machtinteressen in Richtung Kiewer Rus. Die Stadt wurde auch oft Opfer kriegerischer Konflikte. Iwan der Schreckliche, aber auch Aleksander Newski drückten ihre Machtstempel auf. 1942 besetzte die deutsche Wehrmacht zusammen mit verbündeten spanischen Truppen Stadt und Umgebung. Noch immer werden Gebeine damals getöteter Soldaten gefunden und auf den örtlichen Soldatenfriedhöfen begraben oder „nach Hause“ zurückgeführt.

Die Nowgoroder überstanden alle Kriege – sagt Marina – insbesondere durch ihren festen Glauben und die Hilfe der kleinen Taube auf der Spitze der Sophienkathedrale, der nun ältesten in ganz Russland seit Kiew nicht mehr dazugehört. Das im zweiten Weltkrieg verlorengegangene Original ihres Kuppelkreuzes wurde vor wenigen Jahren in Spanien wiederentdeckt und zurückgebracht. Im Inneren der Kathedrale verehren die Gläubigen eine sehr alte Ikone, die in einer entscheidenden Schlacht die Stadt gerettet haben soll.

Marina erzählte spannende Geschichten angesichts der berühmten Bronzetüren, die zwischen 1152 und 1156 in Magdeburg gegossen worden waren. Gespannt hörten wir auch zu, als sie einige Details des Nationaldenkmals Tausend Jahre Russland näher erläuterte. Ein spannendes Zeugnis der Geschichte, geschaffen von dem erst 24jährigen Künstler Michail Ossipowitsch Mikeschin, der eine 1859 erfolgte Ausschreibung gegen 40 Bildhauer und Architekten gewonnen hatte.

Auf der anderen Seite des Flusses zeigte Marina uns den „Kirchenbusch“, eine Vielzahl kleiner Kirchen auf engstem Raum und wir schlossen den Rundgang mit der Geschichte des Hanse-Bundes ab. Nowgorod ist dessen östlichste Stadt. Wir wohnen übrigens standesgemäß im Hotel „Ganse“, Teil eines Komplexes, der einst für Katharina die Große gebaut wurde.

Heute leben in der Stadt ca. 220.000 Menschen.

Wow, was für eine geballte Ladung Geschichte. Ich hör mal hier auf zu schwärmen, um den Blog nicht zu sprengen. Wer mehr Lesestoff sucht, findet allein im „WWW“ unerschöpflich viel . Bei Wikipedia sind z.B. 17 A4-Seiten zum Nachlesen gespeichert.

Zur Entspannung gönnten wir uns eine Terrine Borschtsch sowie einen Kaffee mit anschließendem Bummel durchs „Univermag“. Das Kaufhaus hat alle westeuropäischen Marken im Regal mit analogen Preisen dazu. Darum war es wohl auch so ruhig auf den 4 Etagen.

Zwischendurch blieb uns Zeit zum Radelwäschewaschen, damit die wärmeren Stücke relativ sauber ins Archiv verlagert werden können. Der Frühling wird sich doch nun nicht mehr die Regentschaft abnehmen lassen und wir können weiter kurzärmlig und -hosig radeln, oder?

Nun aber endlich die Fotos:


… und hier noch der „Stadtrundgangstrack“:

Unsere Fahrer – Viktor Tsyuplyak

Fahrer des Begleitfahrzeugs durch ganz Russland

Hallo, ich heiße Viktor und begleite die Radgruppe mit meinem Mercedesbus durch ganz Russland. Ich wohne mit meiner Familie in Moskau. Meine Frau und ich stammen ursprünglich aus Rowno in der West-Ukraine, daher spreche ich nicht nur Russisch, sondern auch Ukrainisch und ein paar Worte Deutsch. Ich hoffe es werden im Laufe unserer spannenden Reise durch mein Land noch ein paar mehr dazu kommen. Schön, dass Peter, aber auch Stefan noch so viel Russisch aus ihrer Schulzeit parat haben.

An der Reise reizt besonders das weite Land hinter dem Ural, welches ich bisher auch nur aus Berichten kenne. Zudem war ich sehr gespannt wie die Leute aussehen, die solche eine „verrückte Reise“ unternehmen, obwohl sie nicht mehr die Jüngsten sind. Für dieses spannende Projekt habe ich mir deshalb von meiner Arbeit beim Moskauer U-Bahnbau eine längere Auszeit genommen.
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Geldwechsel in der Bank nur bei gleichzeitigem Abschluss einer Versicherung

80 km von Solzy nach Weliki Novgorod bei gutem Wetter

Nach dem Frühstück in bewährten Sitzgruppen haben wir uns zu unserem ersten Novgorod aufgemacht – dem Großen Novgorod. Das zweite, „niedrige“ , liegt an der Wolga und wir erreichen es -so der Plan- erst in gut zwei Wochen. Die Fahrt lief zügig und störungsfrei über die gut ausgebaute R 56. Aufhalten ließen wir uns nur durch einen der vielen Trupps, die dieser Tage die unzähligen Gedenkstätten des „Großen Vaterländischen Krieges“ für das Fest am 9. Mai flott machen und von einer der nicht so häufigen Raststätten. Diese hatte so massiv geworben, dass wir trotz reichlich Proviant nicht vorbeifahren wollten. Einer Radlergruppe aus St. Petersburg ging es genauso so, was schnell zu freundschaftlichem Fachsimpeln mit geringem Fachwortschatz und gegenseitigem Bestaunen der mitgeführten Ausrüstung führte.

In Weliki Nowgorod, einer uralten Handelsstadt, durfte ich erfahren, dass die heutigen Händler auch Geschäftssinn haben. So hätte ich heute in der Bank nur Geldwechseln können, wenn ich gleichzeitig eine Versicherung abschließe. Trotz mehrfacher Nachfragen stellte es sich nicht als Scherz heraus, stattdessen wurden mir Versicherugspakete für Hausrat, Familie oder Rechtsschutz vorgelegt, die äußerlich an Spielfilm-CDs erinnerten. Letztlich durfte ich aus Kulanz 200 € unversichert wechseln.