Genug, damit alle satt sind

Gedanken zur Landwirtschaft in China am Radweltreisetag 219
Seit dem 11. August (Radweltreisetag 133) reisen wir nun von Nord nach Süd durch die Volksrepublik China, durch Städte und Dörfer, durch Felder und Wälder.
Wir sehen Menschen, Tiere und Maschinen beim Bearbeiten von großen und kleinen Äckern, beim Pflanzen und Ernten. Wir fotografieren Felder, Obstplantagen und Gewächshäuser auf klitzekleinen und z.T. riesigen Flächen.

In allen Orten wird Gemüse, Obst und Fleisch zum Kauf feilgeboten. Das Angebot der Küchen in den großen und kleinen Restaurants sowie in den „Nudelbuden“, wie wir sie liebevoll nennen, ist frisch und vielfältig.

Hunger ist wohl im heutigen China nur noch eine Erinnerung an früher, trifft aber auf die Gegenwart absolut nicht zu.

Aber wie funktioniert Chinas Landwirtschaft heute eigentlich?
Die Frage bewegte uns öfter und so haben wir uns endlich auch mal näher damit befaßt.

Ja klar, im „WWW“ und in Wikis etc. pp läßt sich vieles nachlesen, aber frag mal die Menschen vor Ort, wenn Dein Wortschatz nach Guten Tag, Danke und Bitte am Ende ist.

Fangen wir also erst mal beim „WWW“ an und beginnen mit den ersten Tagen der VR. Im Kaiserreich war ja z.B. der Besitz absolut klar geregelt, denke ich. Danach wogte es hin und her und irgendwann siegte die Volksbefreiungsarmee mit dem Genossen Mao Zedong an der Spitze.
Natürlich orientierte sich die KP Chinas unter ihm auch erst mal am sozialistischen Nachbarn im Norden. Aber nicht lange.

„In einer ersten Phase nach Ausrufung der Volksrepublik wurde eine Bodenreform von 1949 bis 1952 durchgeführt, bei der fast die Hälfte der landwirtschaftlichen Nutzfläche an etwa 120 Millionen Bauern verteilt wurde. Großgrundbesitzer wurden enteignet.

Die Abkehr vom sowjetischen Vorbild leitete Mao Zedong mit seiner Rede über die Zehn Großen Beziehungen im April 1956 ein. Er initiierte im Mai 1957 die Hundert-Blumen-Bewegung, um die Intelligenz zu mobilisieren. Als der Aufruf zu gesunder Kritik auch zu Kritik an der Partei und einzelnen Parteiführern führte, reagierte die Partei mit der Kampagne gegen Rechtsabweichler, in deren Rahmen 400 Kritiker hingerichtet und eine halbe Million Menschen in Arbeitslager verschleppt wurden. Die Abwendung von der Sowjetunion wurde im Jahre 1958 endgültig, als der Große Sprung nach vorn verkündet wurde. Im Rahmen dieser Kampagne wurde fast die gesamte Landbevölkerung in 26 000 Volkskommunen zusammengefasst und nach militärischen Prinzipien organisiert. Sie sollten Landwirtschaft und Schwerindustrie als „Produktionsschlacht“ gleichzeitig vorantreiben. Planungsfehler, Chaos und Naturkatastrophen führten jedoch dazu, dass in den drei bitteren Jahren von 1960 bis 1962 etwa 30 Millionen Menschen verhungerten. Liu Shaoqi übernahm von 1963 bis 1964 die Aufgabe, die Wirtschaft zu konsolidieren.
Im Jahre 1968 begann die Aufs-Land-Bewegung, mit der 15 Millionen junge Städter zur Arbeit in der Landwirtschaft abkommandiert wurden. Staatspräsident Liu Shaoqi sowie zahlreiche andere hohe Parteifunktionäre wurden als Revisionisten kritisiert und ihrer Ämter enthoben.

Nach Gründung der Volksrepublik China blieb für etwa 20 Jahre die Urbanisierung künstlich auf einem sehr niedrigen Stand eingefroren, was in der Welt einmalig ist. Nach Ende der Kulturrevolution im Jahre 1978 lebten 17,9 % der Einwohner Chinas bzw. 170 Millionen Menschen in Städten. In einer Phase der Wiederbelebung der Städte von 1978 bis 1995 wuchs die Stadtbevölkerung auf 30,5 % der Gesamtbevölkerung. Darauf folgte eine Phase des schnellen Wachstums der Städte, so dass im Jahre 2013 etwa 730 Millionen Menschen bzw. 53,7 % der Bevölkerung des Landes in Städten lebten. Die Auslöser hierfür waren die Effizienzsteigerungen in der Landwirtschaft, die Menschen in Tätigkeiten mit niedriger Produktivität freisetzte, und die Industrialisierung, die Menschen zu Tätigkeiten mit höherer Produktivität anzog. Somit war die Urbanisierung ein wichtiger Faktor zum Wirtschaftswachstum in den vergangenen Jahrzehnten. Bis 2020 wird ein Wachstum der Urbanisierung auf insgesamt 60 Prozent erwartet.

Trotz des schnellen Wachstums der urbanen Gebiete ist es in China gelungen, die Bildung von Slums und Infrastrukturüberlastung wie in anderen Entwicklungsländern zu vermeiden. Trotzdem ist auch China von den negativen Begleiterscheinungen einer schnellen Urbanisierung, wie Zerstörung landwirtschaftlicher Nutzflächen, Umweltverschmutzung und inadäquater Entschädigung bei der Enteignung von landwirtschaftlichen Flächen, betroffen. Problematisch ist die ungleiche Behandlung von internen Migranten, die vom Land in die Stadt ziehen, insbesondere die der 260 Millionen Wanderarbeiter in den großen und mittleren Städten. Das im Jahre 1958 eingeführte Hukou-System benachteiligt Menschen, die in Dörfern registriert sind, beim Zugang zu städtischen Dienstleistungen wie Gesundheitsvorsorge und Bildung; das System wird nur langsam reformiert.

Ende 2016 lebten noch 3,14 Prozent der ländlichen Bevölkerung unterhalb der Armutsgrenze, wovon etwa 43,4 Millionen der rund 1,4 Milliarden Einwohner Chinas betroffen sind. Laut einer Regierungserklärung soll es in China bis 2020 keine Armut mehr geben. Ab 2004 ergriff die chinesische Regierung massive Maßnahmen, um die Armut auf dem Lande gezielt zu bekämpfen. Der Etat für die Landwirtschaft sowie die Tariflöhne für Bauern wurden erhöht, der Aufbau neuer sozialistischer Dörfer angeordnet und Subventionen für Unternehmer bei der Schaffung von Arbeitsplätzen durch Ansiedlung von Industrie und Gewerbe in ländlichen Gebieten gewährt. Seit 2012 wird versucht, das Wirtschaftswachstum auf die Basis der Inlandsnachfrage zu stellen, um einerseits weitere Arbeitsplätze zu schaffen, anderseits um von Exporten und Investitionen unabhängiger zu werden.

Seit das Ausmaß und die Folgen der Umweltschäden nicht mehr zu übersehen sind, steht das Thema Umweltschutz bei der chinesischen Regierung ganz oben auf der Agenda. Ziel ist es, die wirtschaftliche Entwicklung umweltverträglich zu gestalten. Dass dies keine einfache Aufgabe ist, wird unter anderem vom WWF anerkannt: China hat fast ein Fünftel der Weltbevölkerung zu ernähren – und das mit vergleichsweise knappen Ressourcen. Das Land verfügt nur über neun Prozent der weltweit landwirtschaftlich nutzbaren Fläche, und nur über sechs Prozent der globalen Süßwasservorräte.

[https://de.wikipedia.org/wiki/Volksrepublik_China]

Lesenswert hierzu ist auch dieser Artikel aus dem Jahre 2009 von China Radio International über
„Die Erfolge der landwirtschaftlichen Entwicklung seit Gründung der VR China

Die Ernährung der Bevölkerung war oft ein großes Problem in China. Long Yongtu wurde 1943 in der zentralchinesischen Stadt Changsha geboren. Heute ist er Generalsekretär des Boaoer Asien-Forums. Long Yongtu erzählt uns, die meisten Chinesen in seinem Alter hätten sicher an Hunger gelitten:

„Unsere Generation litt häufig an Hunger. Das war für uns eine schwierige Zeit. Damals war das Nahrungsmittelangebot nicht ausreichend. Deshalb kochten und aßen wir meist Kürbis. Bis heute fühle ich mich noch unwohl, wenn ich den Geschmack von Kürbis rieche.“

Die chinesische Regierung erhöht seit Jahren die Subventionen für die Landwirtschaft. Die bereitgestellten Gelder fließen hauptsächlich in den Getreideanbau und in den Kauf von landwirtschaftlichen Geräten. 2007 betrugen die Subventionen aus dem staatlichen Haushalt für die Landwirtschaft mehr als 60 Milliarden Yuan RMB. Gleichzeitig wurde auch die weitere Unterstützung der Landwirtschaft in großem Maße verstärkt. So wurden beispielsweise die Ankaufspreise für Getreide weiter erhöht. Gleichzeitig wurden die Reserven an Getreide, Speiseöl und Schweinefleisch ausgebaut. Die Getreideanbaugebiete wurden zusätzlich unterstützt. Ziel ist es, ein Einkommenswachstum der Landwirte gewährleisten zu können. Zudem hat die chinesische Regierung weitere Maßnahmen zur Förderung der Beschäftigung und der wirtschaftlichen Entwicklung in ländlichen Gebieten ergriffen. Dazu zählen unter anderem die tatkräftige Unterstützung von Unternehmen auf dem Land und ein erhöhter Einsatz zur Förderung der Beschäftigung von ländlichen Wanderarbeitern in Städten. Vor acht Jahren begann die chinesische Regierung zudem, die Landwirtschafssteuer allmählich zu reduzieren, bis sie schließlich im Jahr 2006 komplett erlassen wurde. Eine historische Maßnahme, wurde die Landwirtschaftssteuer schließlich mehr als 2.600 Jahre lang erhoben! Seitdem wird die chinesische Bauernschaft jährlich um mehr als 130 Milliarden Yuan RMB entlastet.

Gleichzeitig wurde das vorhandene Modell zur Weiterentwicklung der Landwirtschaft entsprechend der aktuellen Situation angepasst. So wurde auch die moderne Landwirtschaft verstärkt gefördert. Die Modernisierung der landwirtschaftlichen Maschinen und die Einsparung von landwirtschaftlichen Ressourcen werden tatkräftig unterstützt. Mehr als 60 Prozent der Ackerflächen in China werden aktuell maschinell genutzt. Dabei werden in einigen Regionen auch fortschrittliche Bewässerungsmethoden wie etwa das Wassersprengen und die Rieselbewässerung angewandt.

Angaben zufolge soll bis zum Jahr 2020 das Nettoeinkommen der Landwirte gegenüber 2008 verdoppelt werden. Gleichzeitig soll das Konsumniveau in den ländlichen Gebieten auf ein höheres Niveau gebracht werden. Dadurch soll das Vorkommen von extremer Armut im Großen und Ganzen beseitig werden. Die chinesische Regierung und die chinesische Bevölkerung bemühen sich gemeinsam darum, diese Ziele zu erreichen.
[http://german.cri.cn/1927/2009/05/27/1s115268.htm]

„Jemand hat einmal die Frage gestellt: „Wer ernährt die Chinesen?“ Darauf antworten die chinesischen Führer und Agrarexperten: „Die Chinesen ernähren sich selbst.“ Chinas Landwirtschaft erfährt seit Beginn der Reformen auf dem Land im Jahr 1978 eine schnelle Entwicklung. Die wesentlichen Reformmaßnahmen waren folgende:

— Ein vertragsgebundenes Verantwortlichkeitssystem auf der Basis der Haushalte wurde eingeführt. Die Bauern bekamen wieder das Bodennutzungsrecht und entschieden selbst, was sie anbauen und wie sie mit ihren Produkten umgehen wollen.

— Das System des zentralisierten und zugewiesenen Aufkaufs wurde abgeschafft, die Preise für die meisten landwirtschaftlichen und nebengewerblichen Produkte wurden freigegeben.

— Zahlreiche restriktive politische Richtlinien wurden aufgehoben. Die Bauern können diversifiziert wirtschaften und Unternehmen gründen, was ihre Initiative zur Produktion stimulieren soll. Durch die Reform wurden die Produktivkräfte auf dem Land freigesetzt und gefördert, ein schnelles Wachstum der Landwirtschaft, insbesondere der Getreideproduktion, ermöglicht und die Landwirtschaftsstruktur verbessert. Infolgedessen hat die Landwirtschaft Chinas Erfolge erzielt. Zurzeit nimmt China bei der Produktion von Getreide, Baumwolle, Ölpflanzen, Obst, Fleisch, Geflügel und Eiern, Fischerei- und Algenprodukten sowie Gemüse weltweit den ersten Platz ein.

Mit der Entwicklung der Agrarproduktion stieg auch die verfügbare Menge der Erzeugnisse pro Kopf der Bevölkerung. Im Jahr 2005 entfielen auf jede Person 371 kg Getreide, 47,2 kg Schweine-, Rind- und Hammelfleisch, 21,1 kg Milch und 39,2 kg Fischerei- und Algenprodukte, was über dem internationalen Durchschnitt liegt.
[http://german.china.org.cn/china/china2006/txt/2007-01/19/content_7681356.htm]

Wer immer noch mehr dazu nachlesen will, liest z.B. hier
„China modernisiert Landwirtschaft durch Reformen und Innovation“ (03. 02. 2015, [http://german.china.org.cn/china/2015-02/03/content_34720986.htm] )
und hier weiter
https://www.eu-china.net/uploads/tx_news/Landwirtschaft_in_China_-_Zwischen_Selbstversorgung_und_Weltmarktintegration.pdf)

Soweit wissenswertes im großen groben Überblick.

Während der kleinen Autorundfahrt durch die Reisterrassen am 23.10. nutzten wir die Gelegenheit, Xiao Lei zur Situation zu fragen, kommt er doch auch aus einer Familie, die Landwirtschaft betreibt und er hat dort selbst beim Reisanbau hart mitgearbeitet.
Dank Isabelle hatten wir da mal kein „Sprachproblem“.

Was hab ich dabei gelernt?

Land besitzt in China nur der Staat.
Das Land wir von der Regierung für 30 Jahre an die Bauern verpachtet. Danach kann der Vertrag erneuert werden oder auch nicht.
In bestimmten Regionen ist sogar die Pachtzahlung ausgesetzt und es gibt Zuschüsse für die Bauern, um die weitere Abwanderung in die Städte zu verhindern.
Die Größe der zugewiesenen Felder ist i.d.R. abhängig von der verfügbaren Fläche um das Dorf und von der Anzahl der Bauern.
Jeder Bauer bewirtschaftet normalerweise nur sein eigenes Land.
Auch „Besitz“ großer und mehrerer Felder ist möglich einschl. der Beschäftigung von weiteren Landarbeitern/innen.
Auf den Reisterrassen ist nur eine einzige Ernte pro Jahr möglich. Die Hauptarbeitsmonate sind die von April (säen, pflanzen, …) bis Oktober (Ernte).
Die Arbeit ist körperlich sehr schwer und anstrengend. Xiao Lei erinnerte sich lebhaft, daß sie früher auch Ochsen und Wasserbüffel einspannten.
Jetzt, seit vermehrt Pestizide und Kunstdünger im Einsatz sind, sind auch die Erträge deutlich höher.
Auf den Reisfeldern werden gleichzeitig auch Fische (insbesondere Aale) und Enten gehalten. „Die Enten fressen die Würmer usw. und düngen das Wasser, was auch den Fischen nutzt.“ Übrigens, die Fische müssen so groß sein, daß sie nicht von den Enten gefressen werden können. 😉
Die Ernte darf komplett selbst verbraucht, aber auch teilweise verkauft werden. Es gibt keine Pflichtabgaben (mehr).

Ja, und dann begleiten uns ja auch noch Xiao Luo (ihr Mann Xiao Ding hatte zuerst ab der Einreise den kleinen Bus gefahren) und ihr Schulfreund Xiao Luo (der jetzt das Lenkrad in der Hand hat und oft halsbrechrisch auf dem Autodach herumturnt, wenn Fahrräder dort transportiert werden müssen), die ebenfalls aus einem kleinen Landwirtschaftsbetrieb kommen. Die China-By-Bike-Begleitung ist schließlich nicht ihr Haupterwerbsjob.
Endlich fanden wir Zeit, auch die zu befragen. Hier half uns dann Volker beim Sprachmitteln.

Der kleine Familien-„Betrieb“ bewirtschaftet etwa 3 ha Land und das schon sehr lange und sehr erfolgreich. Er hat auch die Zeit der „Kulturrevolution“ ohne große Probleme überstanden.
Für das Land zahlen sie eine kleine jährliche Pacht. „Fördergeld“ vom Staat gibt es nicht und benötigen sie auch nicht.
Sie können von dem, was sie anbauen und verkaufen, gut leben.
Übrigens, in der Zeit von August bis September/Oktober ist der Arbeitsaufwand nicht sehr hoch, so daß sie gern und mit viel Engagement die CBB-Radreisen begleiten (können).
Spezialität und Hauptprodukt ist Tee, der bei ihnen insbesondere als Tee-Baum wächst. Teesträucher gibt es auch, aber weniger als Bäume. Das ist nicht so aufwendig, erzählt sie, aber der Ertrag ist auch nicht ganz so hoch und es kann nicht so oft geerntet werden, wie bei den Sträuchern.
Aus den geernteten Teeblättern wird vor allem der berühmte (und z.T. richtig teure!) Pu-Erh-Tee (chinesisch 普洱茶, Pinyin pǔ’ěr chá, english Pu’er tea) hergestellt.
Wer mehr darüber wissen will, sollte hier nachlesen: https://de.wikipedia.org/wiki/Pu-Erh-Tee oder auch https://en.wikipedia.org/wiki/Pu%27er_tea.
Sie legen Wert auf möglichst ökologische Bewirtschaftung des Landes, auch wenn hin und wieder nicht nur Naturdünger eingesetzt werden kann.

Neben Tee wird auch Gemüse angebaut und das eine oder andere Nutztier läuft ums Haus herum, aber beides meist nur zum Eigenbedarf. Der ganze „Betrieb“ besteht aus nur 3 Menschen, wobei auch die Kinder ab und zu mit zupacken. Sie tun das gern, sagt Xiao Luo und sie ist sicher, sie werden irgendwann alles von den Eltern übernehmen.
In Zeiten mit überdurchschnittlich viel Arbeit stellen sie vorübergehend Helferinnen und Helfer aus der näheren Umgebung ein, z.B. bei der Ernte. Das können dann durchaus 50-60 Leute sein!

Die gepflückten Teeblätter werden in Zusammenarbeit mit Partnern und darauf spezialisierten Betrieben durch diese weiter verarbeitet, also getrocknet, ggf. fermentiert und vor allem in die verschieden großen Formen gepreßt, verpackt und etikettiert. Wieder andere helfen dann bei der Vermarktung und der Lieferung in die Tee-Läden großer (ja, auch Peking und Shanghai!) und kleinerer Städte. So verdienen alle Beteiligten an den Produkten, deren Veredlung und Vermarktung. Chinesische sozialistische Marktwirtschaft sozusagen. 😉

Tee, muß man(n) wissen, ist in China eher nicht ein Alltagsgetränk, auch wenn alle hier mit den obligatorischen kleinen Thermoskännchen unterwegs sind. Da drin sind zwar auch Teeblätter, aber eher nicht vom allerfeinsten oder auch Hirsekörner oder spezielle Blüten u.v.a.m.
Edler Tee ist richtig teuer und wird in ganz besonderen Zeremonien zelebriert und genossen.
Wie bei gutem Wein gibt es auch beim Tee Lagerbestände mit ganz besonderer Qualität, die – je älter desto besser – sogar an Wert (gemessen in Qualität aber auch in Yuan) wachsen.

So, und nun – Chinalandwirtschaftsbilderbuch auf:

Fast ein anderes Land

Tag 219 der Radweltreise, 52 km von Mengla nach Mohan. Wetter weiterhin ideal

Noch 52 km bis Laos!

Noch 40 km bis Laos!

Noch 30 km bis Laos!

Nur noch 20 km bis Laos!

Nur noch 10 km bis Laos!

Gleich sind wir da, nur noch 1 km und eine Nacht bis Laos.

Mohan, die Grenzstadt, ist immer noch ziemlich verschlafen. Die chinesisch-laotische Eisenbahn wird hier bald halten, im Projekt „Neue Seidenstraße“, eigentlich ja „一带一路 One Belt, One Road“ spielt dieser Grenzübergang eine große Rolle. Hier werden die Güterzüge nach Südostasien durchrollen, und vielleicht wird es auch mal was mit dem „Highway Kunming-Singapur“, der bereits 2003, bei meinem ersten Besuch auf großen Werbetafeln angepriesen wurde.

Vor 15 Jahren habe ich die Etappe so beschrieben, ein Text, der später Teil meines Buches Ein Bus namens Wanda wurde:

Große Welt – Ende der Welt

Rund 1.000 Bauarbeiter auf 50 Kilometern, die Sand von einer Seite der Straße auf die andere schaufeln und Körbe gefüllt mit kleinen Kieseln oder große Granitboliden von A nach B tragen. 1.000 Bauarbeiter, das sind 500 Mal „Hello!“, 250 Mal Kichern und mindestens 50 Einladungen zum Essen, Trinken oder einen Plausch. Ein paar Mal bin ich abgestiegen, habe ein paar Fragen zu Herkunft, Ziel und dem Warum meiner Reise beantwortet, mindestens ebenso oft erklärt, warum ich Hitler nicht toll finde, keinen Benz fahre und noch keine Kinder habe. Aber das hatten wir ja schon. Zu mehr war keine Zeit. Laos ruft, ich freue mich auf ein anderes Land, andere Gespräche, anderes Essen. „Laos ist rückständig!“, war der Tenor der Bauarbeiter, die meist bis zu den Knöcheln im Dreck standen und deren ärmliche Hütten auch nicht gerade Luxus verströmten. Aber in China definiert man sich nun mal gerne über die Nation, nicht das eigene Schicksal, zumindest wenn letzteres nicht allzu rosig aussieht. „China mit seiner über 5.000 Jahre langen Geschichte!“ ist dann zuweilen auch der stolze Ausspruch von Menschen, die außer Nationalgefühl nicht viel zu bieten haben. Dieses wird von der Regierung auch gerne gehegt und gepflegt. Wer stolz auf sein Land ist, kritisiert eben weniger.

Seit Mengla, meiner letzten Übernachtungsstation, bin ich fast 50 Kilometer von Schlagloch zu Baugrube gehoppelt. Kurz vor Mohan, der Grenzstadt zu Laos, erstreckt sich dann eine vier Kilometer lange rote Schlammwüste, wo einst eine Straße war. „Hier entsteht das große internationale Handelszentrum an der Autobahn Kunming-Bangkok“ steht in Mohan auf einer großen Propagandatafel, die der einzige, dafür aber sehr dick aufgetragene Farbkleckser in einer roten Schlammlandschaft ist. Entlang der Hauptstraße, das ist der Teil des Ortes, an dem der Schlamm planiert ist, nagen sich große Bagger durch Hauswände. Von einem der Gebäude hängt noch ein Schild „Hotel, Zimmer mit Dusche und WC“. Soviel zu meinen Übernachtungsoptionen. Der Lonely Planet meinte noch lapidar „In Mohan sollte es einfache Übernachtungsmöglichkeiten geben“, chinesische Reiseführer und das Internet kennen Mohan erst gar nicht.

Ich stelle mein rotbeschlammtes Fahrrad ab, setze mich in eine simple Garküche, an deren Wänden schon das rote Schriftzeichen „Zhai“ den bevorstehenden Abriss ankündigt, und bestelle mir ein Bier. „Qingdao, Dali, Mekong, Singha oder Beer Lao?“, fragt die Chefin mich. „Qingdao haben wir in der Light, Superlight und in der klassischen Version, Mekong ist nur die Sorte mit 11 Prozent Stammwürze da, Singha und Lao sind importiert und daher ein wenig teurer!“ Konstaniert bestelle ich das Mekong-Bier, dass in der stärkeren Version sonst nur schwer erhältlich ist und zu den besten in Yunnan gehört. Chinesen bevorzugen meist eher dünnes Bier, manchmal mit gerade 6 Prozent Stammwürze und weniger als zwei Prozent Alkohol. Macht nicht dick und geht weniger in die Birne, hat mir ein chinesischer Geschäftsmann mal erklärt und mich dann erst auf ein üppiges Essen und dann ein paar hochprozentige Schnäpse eingeladen. „Wie kommt es, dass Du so eine große Auswahl hast?“, frage ich die Chefin, die sich sofort zu mir an den Tisch setzt. „Eigentlich sind die Lieferungen schon für das Logistikzentrum bestimmt.“, antwortet sie. „Das wird aber nicht vor nächstem Jahr fertig sein. Solange nehme ich alle Waren ab, die sich gut verkaufen. Importiertes Bier ist da nicht die schlechteste Wahl, und auch das Qingdao ist eigentlich für den Export nach Thailand!“ Ich schaue mich ein wenig in der Auslage um. Da steht zehn Jahre alter französischer Rotwein, auf welchen Wegen auch immer über Laos importiert, vietnamesische Bananenchips, thailändische M-150, eine potente Red-Bull-Variante. Die Chefin selbst kommt aus Sichuan, der Provinz im Norden von Yunnan und hat als Spezialität Sichuan Hotpot, richtig zubereitet ein direkter Angriff auf die Schärfetoleranz eines jeden Uninitierten, im Angebot. Der lässt sich als Einzelreisender aber nur sehr schlecht genießen, und so wähle ich in Chili, Schnaps und Essig eingelegtes Gemüse als Vorspeise, fritierte Bohnen mit Knoblauch und Hühnergeschnetzeltes mit Fischgeschmack, das weniger nach Flossenträger schmeckt, als vielmehr eine angenehm scharf-saure Note hat. Yuxiang, mit Fischgeschmack, gibt es in vielen Ausführungen, als Tofu, Aubergine, Schwein oder Kuddeln, und ist die Quintessenz der Küche Sichuans: Frisch, reicher Geschmack, sich ergänzende Gewürzvariationen. Ein perfektes letztes Essen im Reich der Mitte!

Am Nebentisch sitzen einige junge Männer in Uniform und tauchen kleine Gemüse- und Fleischstückchen in einen Fonduetopf mit infernalisch scharf aussehender Brühe.
„Guten Morgen“ begrüßt mich der Truppführer, zumindest halte ich ihn dafür, da seine Epauletten auf jeder Schulter drei umrandete Sterne schmücken, auf Deutsch. Tageszeitlich nicht ganz korrekt, aber doch ganz gut ausgesprochen. „Habe ich von anderen Deutschen gelernt“, erzählt er, als ich sein Deutsch komplimentiere. „Ab und zu kommen hier ja mal welche vorbei.“ Ich bringe ihm auf Nachfrage noch „Frohes Neues Jahr“ bei, ein Ausdruck, an dem er sich sichtlich verschluckt.

„Die Straßen in Laos sind schlecht“, warnt er mich. „Noch schlechter als auf den letzten 50 km?“, frage ich ihn unvorsichtiger Weise. Das verletzt sichtlich seinen Nationalstolz. „Wir bauen hier den Highway Kunming-Singapur!“ „Gaosugonglu“, Highway, sagt er mit betontem Stolz. „Dann haben wir einen Hafen für chinesische Güter in Südostasien!“ Tatsächlich ist es ein großes Problem für Chinas Exportwirtschaft, dass alle chinesischen Güter, die für den europäischen oder arabischen Markt bestimmt sind, ebenso wie die Öltanker aus den Golfstaaten den weiten Weg durch das südchinesische Meer bis bzw. von Singapur machen müssen. Ein chinesischer Hafen am Indischen Ozean würde dieses Problem lösen. Nicht umsonst versucht die chinesische Führung, ihren Einfluß auf Myanmar (Birma) auszuweiten und baut bereits mit Hochdruck an einer Bahnverbindung von Dali zur birmesischen Grenze. Singapur wäre dazu bei entsprechendem Ausbau der Handelswege von China durch Laos, Thailand und Malaysia eine entsprechende Ergänzung

Der gute Truppführer der hiesigen Zollstation hat bei der letzten Politschulung also gut aufgepasst. Ob er weiss, dass der Highway spätestens nach einigen Kilometern in Laos in einer zur Regenzeit unpassierbaren Piste endet?

Die Frage verkneife ich mir und frage ihn lieber nach einer möglichen Unterkunft in Mohans. „Du suchst ein Hotel?“, fragt mich der Truppführer, und ich erwarte bereits eine Einladung in den Schlafsaal der Zollstation. „Fahr zurück an die zentrale Kreuzung (zentraler Schlammhaufen liegt mir auf den Lippen), halte Dich dann links und nach 200 Metern bergauf findest Du ein ausgezeichnetes Hotel! Es hat gerade erst eröffnet!“ Das klingt gut, ich zahle, schwinge mich auf’s Rad und stelle gleich darauf fest, wo die Bulldozer nach getaner Arbeit umdrehen: Auf der Hotelzufahrt. Rotgeriffelter getrockneter Dreck führt mich zu einem modernen, vierstöckigen Gebäude, das von außen schon einmal ganz gut aussieht.

„Shanghai Business Hotel“ steht über dem Eingang in großen Schriftzeichen. Die Preise an der Rezeption verheißen nichts Gutes. 60 RMB kostet das teuerste Zimmer, das klingt verdächtig nach Bruchbude. Die Dame an der Rezeption sieht meinen skeptischen Gesichtsausdruck und ergreift die Initiative: „Weil Du es bist und wir noch nicht so viele Gäste haben, kostet es nur 40 RMB!“ „Mit Bad und WC?“, frage ich. „Mit Bad, WC, Balkon und Klimaanlage!“ erwidert sie. Das überzeugt mich, vor allem, weil es ja sowieso keine Alternative gäbe. In ihrer Zimmerbeschreibung hat die Rezeptionsdame den dunkelbraunen Holzfußboden, das King-Size-Bett und die Spitzengardienen an den Fenstern vergessen. Ich lasse mich nach einer ausgiebigen Dusche zufrieden auf das riesige Bett fallen. Vor dem Fenster zwitschern bunte Vögel. Die Sonne geht in einem grellroten Feuerball über den Wipfeln tropischer Baumriesen unter und taucht den Raum in ein angenehmes Licht. Angenehm entspannt liege ich auf meinem Bett und fühle mich pudelwohl. Mir fallen die Augen zu und ich döse ein.

„Peng!!!“ Ich schrecke hoch. Noch einmal fällt eine Tür ins Schloß. Dann klopft es. Gleichzeitig klingelt das Telefon Sturm? Feuer? Sonst irgendeine Katastrophe? Ich nehme den Hörer ab und höre ein bemüht erotisches Säuseln. „Hallo mein Herr, willst Du ein Fräulein?“ Jetzt wir Einiges klar. Shanghai Business Hotel! Bei uns heißen Bordelle ja auch „Bangkok“, „Pattaya“, „Pascha“, „Ballermann“ oder schmücken sich mit sonstigen, für das potentielle Klientel wohlklingenden Namen. Shanghai verspricht da wohl für dem chinesischen Geschäftsmann aus der Provinz auch Abenteuer und großer Welt. Und das Business im Namen macht nun auch Sinn. Und selbiges läuft ausgezeichnet. Im Minutentakt knallen die Türen, lautes Stöhnen aus den Nebenräumen klingt durch die Musikfetzen, die aus der Karaokebar dringen.
„Mein Liebesvogel ist noch nicht gekommen“ (Aiqing Niao), klappt da durch die Tür, eine schnelle Nummer im Diskobeat, „Die wilde Blume“ (Yehua), eine an sich sehr schöne Balade, von einer schrillen Frauenstimme vergewaltigt, und dann noch „Fröhlich im Schmerz“ (Tongbing Kuaile), entgegen der Titelzeile eigentlich eine recht lahme Nummer, vor allem, wenn sie von einem angetrunkenen Karaokegast zerlallt wird. Wieder klingelt das Telefon. „Xiansheng, nihao! Yao bu yao xiaojie?“ Also das selbe Säuseln. Oder eher das gleiche, da sich nun eine andere Dame bemüht. Eine dritte Kollegin klopft gleichzeitig an meine Tür. Nun bin ich langsam wach und vor allem neugierig. Ich schlürfe zur Tür und öffne sie. Davor steht eine Mischung aus Ingrid Steeger und Hella von Sinnen mit Schlitzaugen, gebleichten Haaren, leicht gewandet in einem Miss-Piggy-Outfit. „Nein, danke!“, sage ich und knalle die Tür zu. Und greife nach dem besten Verhütungsmittel, das ich kenne: Ohropax. Von der Karaoke bleibt nur ein Summen, zusätzlich stöpsle ich das Telefon aus und hänge das „Nicht Stören!“-Schild an die Tür. Gegen Mitternacht wird dann auch das Türschlagen seltener, so dass ich langsam wieder in den Schlaf finde.

„Macht 40 RMB für das Zimmer und dann noch 5 RMB Konsum aus der Minibar!“, deklariert die Rezeptionsdame am nächsten Morgen beim Auschecken, in einer Stimme, die keinen Widerspruch duldet. „Was soll ich denn konsumiert haben, Genitaldesinfektionstuch, Ephidrine oder Kondome?“, frage ich und wundere mich, dass ich mir sowohl den nicht flüssigen Inhalt der Minibar als auch den Namen für Genitaldesinfektionstücher auf Chinesisch gemerkt habe. „Du hast ein Kondom benutzt!“, bekomme ich zur Antwort. „Kannst Du mir auch sagen, mit wem?“, frage ich und halte mich für klever. Prostitution ist in China immer noch illegal, wenn auch äußerst weit verbreitet. Offiziell würde sie nie zugeben, dass sie Concierge in einem Puff ist. „Ist mir doch egal, auf jeden Fall fehlt ein Verhüterli.“, entgegnet sie. Wobei sie natürlich nicht Verhüterli sagt, sondern Xiao Lili, was in etwa so wäre, als würde man Kondome in Deutschland Heidi nennen. Gehört habe ich den Ausdruck noch nicht, ich kenne Biyun Tao, Anquan Tao, Weisheng Tao oder einfach nur Taozi. So siegt der Linguist in mir über den Dogmatiker und ich bezahle das nicht genutzte Kondom. „Dann würde ich aber auch gerne ein Genitaldesinfektionstuch mitnehmen!“, insistiere ich. „Nur für Hotelgäste!“, sagt sie trocken, und ich habe ja schon ausgecheckt.

Auf dem Weg zu Grenzstation muss ich noch einmal durch die Bulldozer-Wendestation. Jetzt stehen da zwei chinesische Arbeiterinnen und wässern den Schlamm. Das macht die Sache nicht einfacher. Die Grenzestation erreiche ich daher mit einer leichten Schlammkruste in Rot, säuberlich über Rad und Kleidung verteilt.

Die Zollbeamten, die ich bereits vom Abendessen gestern kenne, fertigen mich schnell und unkompliziert ab. So unerwartet unkompliziert, dass ich vor lauter Schreck meine Geldtasche und den Pass auf dem Counter liegen lasse. Nach etwa 500 Metern und dem ersten „Sawadii“ einer Laotin, die ihrem kleinen Kind einen Ausländer zeigt und es zum Grüßen animiert, bemerke ich es und dreh hastig um, abwärts durch dicken roten Schlamm, den die (immer noch chinesischen) Arbeiter einmal quer über die Straße verteilt haben. Zurück an der Grenze kommt mir bereits der Zöllner entgegen. „Erst wollte ich Dir jemanden hinterherschicken; dann habe ich mir aber gedacht, Du merkst das schon!“ Und lacht schelmisch. Nachdem ich die Tasche sicher verstaut habe, starte ich den zweiten Versuch, nach Laos zu kommen. Ein zweites „Sawadii“, diesmal von dem Kind, dass ja nun weiß, wie ein Ausländer aussieht: Kreideweiß und mit rotem Schlamm besprenkelt.

Heute keine Bulldozer, keine Bordells mehr und der große Boom ist auch ausgeblieben.

Darauf ein Beer Lao!

Wer Lust auf mehr hat: Das Buch Ein Bus namens Wanda, der meine Erkundungsreise entlang des Mekongs beschreibt, gibt es als Ebook, und zwar hier:

Ein Bus namens Wanda